Klar, manchmal holpert das Leben über Umleitungen. Manchmal haben wir uns verfahren, weil wir von den gut beleuchteten Straßen auf scheinbar so tolle aber dunkle Abkürzungen abbogen. Und oft verlieren wir uns. Und manchmal tut es weh.

Ja, ich hab manchmal in meinem Leben gedacht, daß es schrecklich ist, was man mir als mein Leben andrehen wollte. Und ja, ich hab manchmal mit angezogenen Beinen des nachts in der Ecke gesessen und hab gedacht, daß ich an dem Schmerz, den mir andere oder ich mir selber durch falsche Entscheidungen angetan hatte, kaputt gehen würde. Aber ich ging nicht kaputt.

Aber das war alles nichts im Vergleich zu dem, was mir an jenem grauen späten Oktober-Nachmittag in dem von mir so geliebten Nordwesten der USA widerfuhr. Da machte ich die Tür zu seinem Zimmer auf. Und da lag mein Sohnemann mit zerschossenem Schädel auf dem Fußboden. Und von jetzt auf sofort wurde alles anders und nie mehr so, wie es mal war.

Die Polizei, die Polizei-Kaplanin und die Frau von der Selbsthilfegruppe, die man gerufen hatte, bestanden alle darauf, daß ich die Nacht im Hotel verbringen sollte und nicht in dem Haus schlafen sollte, wo mein Sohn sich aus diesem Leben, das wir doch so herrlich toll fanden, geschossen hatte.

Ich verstand nichts mehr. Als ein Polizist mich im Garten vor unserem Haus (ich mußte aus dem Haus raus, weil Spurensicherung, Staatsanwaltschaft und Polizei im Haus aktiv waren) nach den Vornamen von meinem Sohnemann fragte, konnte ich sie nicht sagen. Mein Hirn war voll traumatischem Schmerz. Da war kein Platz mehr für Namen. Oh mein Gott! Warum?!

Und ich war in diesem Hotelzimmer. Und ich konnte mich nicht ins Bett legen, weil ich dachte, wenn ich mich ins Bett lege, daß ich dann untergehen würde in einem Ozean an Schmerz und Horror und Unverständnis und niemals, niemals wieder herauskommen würde. Oh mein Gott! Das ist doch alles nicht wahr, oder?

Die Polizei hatte gesagt, ich solle mir noch schnell Sachen mitnehmen, kurz bevor es im Krankenwagen erst ins Krankenhaus und dann ins Hotel ging. Du meine Güte, was soll ich denn mitnehmen?! Und ich stand da im Wohnzimmer vor meinem Schreibtisch, auf dem wie immer meine aufgeschlagene Bibel lag. Die nahm ich. Nichts anderes kann jetzt noch helfen.

Und der Horror kroch an mir hoch in meine Gedanken und wollte mich fassen und würde mich nie wieder loslassen.

Ich verstand nichts mehr. Mein Leben war immer eine schöne Reise gewesen. Ja, mit Dellen und Umwegen und Stillständen, aber letztlich immer herrlich mit Gottes Segen. Und nun war ich da in diesem Hotelzimmer. Und mein Sohn war nicht nur tot, sondern mein Sohnemann hatte sich aus freien Stücken mit unserer Schrotflinte den Schädel weggeblasen. Was soll da noch Sinn ergeben!?

Mein Gott! Mein Gott! Mein gewaltiger Gott! Was heißt das? Hast du mich verlassen? War das alles ein Traum? Habe ich mir das alles eingebildet, wenn ich dachte, du seist bei mir und mit mir und immer für mich da? Stimmt denn nix mehr? Komme ich in die Hölle? Bin ich verloren? Hast du mich verlassen und ich bin jetzt für alle Ewigkeit alleine und fern von dir? Mein Gott! Sag mir, was Sache ist!

horror-nach-selbstmord

Die Bibel lag auf einer kleinen Anrichte in dem Hotelzimmer. Und ich kniete nieder. Und ich sagte zu Gott: Wenn du je mit mir redest, dann tu es jetzt. Wenn du mir jemals etwas sagen willst, dann ist jetzt der Moment dafür, mein Gott! Rede mit mir! Sag, was Sache ist! Egal, egal was es ist, egal wie schrecklich es ist, aber ich muß von dir wissen, was los ist. Sag es mir. Ganz egal, wie schrecklich es auch sein mag. Sag mir, was los ist, mein Gott!

Noch nie in meinem Leben hatte ich vor meinem Gott derart verzweifelt gekniet und derart intensiv um seine Antwort gebeten (es gab noch einen zweiten Moment, der kam aber erst ein paar Tage später).

Paß auf, mein Gott. Ich schlag jetzt meine Bibel auf. Und ich lege meinen Finger auf eine Stelle. Und ich erwarte, ich erwarte, ich verlange, daß du mir sagst, was Sache ist.

Ich weiß, daß das Quatsch mit diesem Bibelaufschlagen ist. Aber jetzt muß es sein. Hörst du, mein Gott? Jetzt muß es sein, denn ich habe keine Zeit mehr zum Nachdenken und Lesen und Sinnen.

Ich muß jetzt wissen, jetzt muß ich wissen, was los ist. Hörst du? Ja, „sagte“ Gott. Und mir ist egal, sagte ich, wie schrecklich es auch sein mag, auch wenn du mich verlassen hast, dann sag es mir jetzt. Ich muß wissen, wie wir beide miteinander stehen. Jetzt.

Und ich schlug meine Bibel auf. Und ich legte meinen Zeigefinger auf eine Stelle auf der aufgeschlagenen Seite. Und mein Herz bebte, und mein Hirn raste wie eine Achterbahn die Schmerzen runter und die Verzweiflung rauf, und mir drohten die Adern an den Schläfen zu platzen. Mir ist egal, was ist, lieber Gott, sage mir nur, was ist.

Ich schaute, wo mein Finger auf der Seite lag. Und ich las durch die Tränen: „Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen: du bist mein! Sooft du durchs Wasser gehst: ich bin bei dir, und durch Ströme: sie sollen dich nicht überfluten! Sooft du durchs Feuer gehst: du sollst nicht versengt werden, und die Flamme soll dir nichts antun! Denn ich, der HERR, bin dein Gott, ich, der Heilige Israels, bin dein Retter“ (Gott in Jesaja 43:1-3)