Auf der Zugspitze hatte es geschneit. Und auch hier in Flensburg war es an diesem November-Abend so kalt. Aber vielleicht kroch auch nur in mir die Kälte hoch bis an mein Herz.
Ich blickte aus meinem Fenster über die Dächer der Stadt und ein wabernder Nebel, der vom Hafen her in die Stadt kroch, war dabei, die Stadt zu verschlucken.
Und ich wußte, da war wieder diese gewaltige Welle im Anmarsch. Ich hatte sie nicht kommen sehen. Aber jetzt rollte sie heran. Und ich wußte, ich würde ihr nicht entkommen. Im Fernsehen hatte ich vor Jahren Augenzeugenberichte gesehen, die erzählten, wie die Tsunami-Welle vom Dezember 2004 in Thailand sich draußen auf dem Meer aufbaute und auf den Strand heranrollte, und daß ein Weglaufen angesichts dieser gewaltigen herankommenden Welle völlig aussichtslos war. Ich hatte diese Beschreibung für immer mehr als treffend angesehen, um die Traurigkeitswellen zu beschreiben, die mich unter sich begruben nach dem Selbstmord meines Sohnemanns.
Und dann stand ich da wieder an der Tür zu seinem Zimmer. Und dann las ich wieder den kleinen gelben Post-it-Zettel an seiner Zimmertür: Schau mir nicht ins Gesicht. Und dann machte ich wieder die Tür auf und da lag er wieder mit zerschossenem Schädel. Und da lief ich wieder schreiend aus dem Haus. Und da fuhr ich immer wieder zu seinem Grab, weil ich dort nicht sein wollte, aber auch nicht wußte, wo ich sonst hin sollte.
Und da heulte es mich wieder so dolle, daß mir der Atem wegblieb. Und da schüttelte mich die Traurigkeit wieder so heftig, daß ich dachte, ich werde sterben.
Wie kann das sein, nach den Jahren, daß es mich doch wieder so schrecklich packt? Kann das nicht mal aufhören?
Meine Nähe, Jürgensen, meine Nähe für dich hört doch auch nicht auf.
Ich weiß. Ich weiß, aber es tut immer noch so weh.
Ich weiß, Jürgensen, ich bin auch Vater.
Keine Traurigkeit kann mich von dir wegbringen, mein Gott.
Ich weiß, Jürgensen, und ich freu mich darüber.
Gut, Ehr, Kind und Weib:
lass fahren dahin,
sie haben’s kein’ Gewinn,
das Reich muss uns doch bleiben.“
(Ein feste Burg ist unser Gott; Martin Luther
Ich hatte im Fernsehen einen schönen Bericht über einen kanadischen Naturpark gesehen. Und ich erinnerte mich daran, wie mein Sohnemann und ich immer wieder stundenlang durch die wilde Einsamkeit fuhren und verschneite Paßstraßen überquerten und im Sommer unsere nackten Füße in einsamen Bergseen baumeln ließen und auf den Bergen standen und in die herrliche Einsamkeit schauten und von Gottes Schöpfung überwältigt waren.
Und dann muß in diesem Fernsehfilm ein Ranger kommen und seine Schrotflinte aus seinem Auto holen und die Slugs zeigen und sagen, daß man mit diesem Stück Blei den Schädel von einem Bären zerschmettern kann. Und dann steh ich wieder mit meinem Sohn an der Waffenabteilung von dem Geschäft, in das ich danach nie wieder gehen konnte. Und dann kaufen wir wieder für teures Geld die Schachtel mit den Slugs. Und dann sagt wieder der Verkäufer: Damit könnt ihr einem Bären den Schädel wegblasen. Und dann steh ich wieder mit meinem Sohnemann in der wilden Einsamkeit und er schießt einen Slug in den großen Baumstumpf und alles wird weggefetzt. Und wir sagen wieder Boah! und Wow! und Wahnsinn!. Und dann steh ich wieder in seinem Zimmer, nachdem die Tatort-Reiniger-Firma aufgeräumt hatte, aber an den Wänden überall noch das Blut war und oben rechts das große Loch von dem Slug in der Wand noch nicht zugegipst war. Und dann macht wieder alles von jetzt auf sofort überhaupt keinen Sinn mehr.
Ich mag nicht mehr diese Traurigkeit haben, mein Gott. doch er (d.h. der Herr) hat zu mir gesagt: »Meine Gnade ist für dich genügend (= muß dir genügen), denn meine Kraft gelangt in der Schwachheit zur Vollendung (= zu voller Auswirkung).«“ (2 Korinther Kapitel 12, Verse 7-9; Menge Bibel)
Ich weiß, mein Gott, es tut nur so weh.
Ich weiß, Jürgensen, ich bin auch Vater. Komm, laß dich trösten.